Der Ratgeber «Und plötzlich steht alles Kopf» vermittelt Wissen über die Folgen einer erworbenen Hirn­ver­letzung und den Um­gang damit.

Ratgeber lesen

Wenn das Lernen schwierig wird

Der Mensch ist ein lernendes Wesen. Ganz besonders trifft das auf Kinder zu. Was aber, wenn eine Hirnverletzung das Lernen erschwert? Christina Schäfer von der Lernpraxis Zürich weiss aus Erfahrung, was dies für das betroffene Kind und dessen Familie im Alltag und in der Schule heissen kann.

Lernen bedeutet, aufnehmen und wiedergeben, sich konzentrieren, selbst organisieren und planen zu können. Christina Schäfer führt dies am Beispiel einer Prüfung aus: «Die Schülerin, der Schüler muss sich die Zeit einteilen können, um nicht an der ersten Frage hängenzubleiben, sie oder er muss sich einen Überblick verschaffen können, verstehen, was gefragt ist, und das auch entsprechend erinnern und wiedergeben können. All das kann nach einer Hirnverletzung erschwert sein»

Wie sich Hirnverletzungen auswirken

Wenn die Neuropsychologin Christina Schäfer von der Lernpraxis Zürich von Hirnverletzungen spricht, dann meint sie perinatale, also vor, während oder kurz nach der Geburt entstandene, oder postnatale Schädigungen, also solche, die später im Leben durch einen Unfall oder eine Krankheit verursacht wurden. Grundsätzlich können solche Hirnverletzungen alle für das Lernen wichtigen kognitiven Funktionen betreffen, fast immer ist aber eine Beeinträchtigung der Aufmerksamkeitsleistungen zu beobachten. «Für diese komplexe Funktion spielen verschiedene Gehirnareale zusammen, sowohl in der Hirnrinde wie auch in tieferliegenden, subkortikalen Regionen», erklärt Christina Schäfer. «Ist das Gehirn an irgend einer Stelle verletzt, kann dies leicht zu einer umfassenden Beeinträchtigung des ganzen Aufmerksamkeitssystems führen.»

Vielfach lassen sich auch eine erhöhte Lärmempfindlichkeit und Ermüdbarkeit oder eine verlangsamte Psychomotorik beobachten. Die Kinder haben teilweise Mühe, einen ganzen Vormittag Unterricht durchzuhalten, sondern brauchen vermehrte Pausen, vorzugsweise in einer reizarmen Umgebung. Zur Bearbeitung von Aufgaben benötigen manche Kinder aufgrund einer Verlangsamung deutlich mehr Zeit. Hier sei es wichtig, in Prüfungen aber auch im Unterricht und bei den Hausaufgaben das Pensum anzupassen respektive die Bearbeitungszeit zu verlängern, so die Fachfrau.

Gedächtnisstörungen, die mit dem Hippocampus zusammenhängen, kommen öfter vor. «Ist das Langzeitgedächtnis betroffen, haben Kinder Schwierigkeiten, neues Wissen zu erwerben und langfristig zu behalten. Es kommt aber auch vor, dass das Wissen zwar da ist, aber nicht abgerufen und aufs Papier gebracht werden kann. Bei Störungen des Kurzzeitgedächtnisses können nur wenige Informationen gleichzeitig aufgenommen werden. Diese Kinder haben Mühe mit Aufgaben oder Anweisungen, die mehrere Schritte umfassen. Sie wissen nicht, welche Hausaufgaben die Lehrperson aufgegeben hat oder welches Material sie zu deren Erledigung mit nach Hause nehmen müssen», erzählt Christina Schäfer.

Häufig sind auch die sogenannten exekutiven Funktionen beeinträchtigt – ein Bündel von grundlegenden Fähigkeiten wie z.B. Impulskontrolle und -gebung, Arbeitsgedächtnis, Handlungsplanung, das Setzen von Prioritäten und Zielen und vieles mehr. «Sitz der exekutiven Funktionen ist das Frontalhirn», erläutert sie, «aber auch die Basalganglien, das Kleinhirn und der Thalamus als Schaltstelle sind an exekutiven Prozessen beteiligt. So kommt es, dass auch Verletzungen, die nicht direkt das Frontalhirn schädigen, zu Beeinträchtigungen exekutiver Funktionen führen können.»

Schliesslich können nach Hirnverletzungen auch Beeinträchtigungen der Sprachverarbeitung oder der visuellen, räumlichen oder auditiven Wahrnehmung auftreten, die sich natürlich ebenfalls auf das Lernen auswirken.

«Typisch sind grosse Diskrepanzen zwischen unterschiedlichen Leistungsbereichen, zum Beispiel zwischen sprachlichen und visuell-räumlichen Aufgaben», weiss die Neuropsychologin. In einem Bereich können die Leistungen sehr gut sein. Erwartungen auf dieser Grundlage müssen aber für andere Bereiche absolut nicht gültig sein. «Es gibt Kinder, die schreiben genauso komplexe Aufsätze wie vor der Hirnverletzung, haben aber Mühe, wenn es um einfache Aufgaben in Geometrie geht. Dadurch werden sie leicht über- oder auch unterschätzt. Jeder Bereich sollte daher differenziert untersucht werden.»

Nicht nur kognitive Folgen

Neben den kognitiven Beeinträchtigungen dürften die emotionalen und die sozialen Folgen nicht vergessen werden, betont Christina Schäfer. Wissenschaftliche Studien würden belegen, dass rund 40 Prozent der Kinder mehrere Jahre nach einer perinatalen Hirnverletzung Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Das sei ein sehr hoher Prozentsatz. «Die Emotionsregulation, aber auch die Wahrnehmung von Emotionen bei anderen, das Deuten sozialer Signale und die angemessene Reaktion darauf – um nur einige Beispiele zu nennen – können nach einer Hirnverletzung beeinträchtigt sein. Und auch diese Beeinträchtigungen können sich auf das Lernen und vor allem auf den Erfolg im schulischen Alltag auswirken.»

Das Gehirn als sich veränderndes Organ

Die Auswirkungen einer Hirnverletzung seien abhängig vom Alter zum Zeitpunkt der Verletzung, dem betroffenen Hirnareal, vom Verletzungsmechanismus und von den psychosozialen Umständen, führt Christina Schäfer aus. In der Gehirnentwicklung finde eine funktionale Differenzierung statt. Zwar bestünden gewisse «Voreinstellungen», gewisse Funktionen seien in gewissen Hirnarealen angelegt. Aber es gebe noch eine hohe Plastizität, das heisst Nervenzellen und Synapsen können sich hinsichtlich ihrer Anatomie und Funktion verändern. Christina Schäfer nennt ein Beispiel: «Eine perinatal recht häufige Hirnverletzung ist der linksseitige Infarkt der Arteria cerebri media. Bei Erwachsenen würde dies zu einer überdauernden Sprachstörung führen, bei Kindern jedoch nicht zwingend. Die Sprache ist eine so zentrale Funktion, dass das Gehirn sie sozusagen realisieren MUSS. Wenn die dafür bestimmten Areale geschädigt sind, übernehmen andere diese Funktion. Bei älteren Kindern und Jugendlichen nimmt die Plastizität des neuronalen Systems jedoch ab und die Folgen ähneln zunehmend jenen von Erwachsenen mit einer Hirnverletzung.»

Unterschiedliche Lernbiografien

Jeder Mensch habe eine Lerngeschichte und einen je eigenen Umgang mit den erworbenen Beeinträchtigungen. Darum würden sich die Folgen einer Hirnverletzung sehr individuell äussern, berichtet sie. Für den «outcome» seien neben den effektiven Funktionsbeeinträchtigungen mögliche vorbestehende Belastungsfaktoren, das Umfeld und die Persönlichkeit des Kindes zentral.

Christina Schäfer beobachtet, dass sich Kinder bei einer frühen Hirnverletzung «mit der Schädigung» entwickeln. Bei Kindern, deren Gehirn erst später verletzt wird, gibt es einen Bruch, ein Davor und ein Danach. «Das ‹Vorher› dient dann als Massstab. Diese Kinder oder Jugendlichen bemühen sich sehr, ihr gewohntes Niveau wieder zu erreichen. Wenn sie merken, dass es nicht mehr gleich gut oder gleich schnell geht wie früher, können sie auf diese Diskrepanz mit einem Leistungseinbruch reagieren oder in eine chronische Überforderung geraten.»

Nicht alles wächst sich aus

Früher habe man gedacht, nach einer Hirnverletzung wachse sich alles mit der Zeit aus. Bei Kindern stimme das zu einem gewissen Mass, aber die Plastizität gehe zulasten anderer Funktionen. «Wenn zum Beispiel die Sprache von der linken auf die rechte Hemisphäre wandert, was passiert dann mit den Funktionen, die dort lokalisiert sind?», gibt die Fachfrau zu bedenken. «Bei früh in der Entwicklung erworbenen Läsionen sehen wir häufig ein diffuses kognitives Bild. Die gesamte Gehirnentwicklung ist verändert. Dadurch, dass gesunde Hirnregionen Funktionen von geschädigten übernehmen, zeigen sich bei allen Funktionen etwas reduzierte Leistungen. Primäre Areale wie die visuellen können zudem nicht von anderen ersetzt werden. Spätere Läsionen führen eher zu konkreten, spezifischeren Ausfällen. Die Intelligenz ist häufig nicht direkt betroffen. Die Auswirkungen zeigen sich meistens in individuellen Teilleistungsstörungen.»

Der zeitliche Verlauf ist je nach Verletzung verschieden. Grundsätzlich könne man bei mittelschweren und schweren Hirnverletzungen davon ausgehen, dass in den ersten Tagen bis Monaten eine starke und schnelle Besserung eintrete, die sich nach und nach verlangsame, so Schäfer. Trotzdem komme es auch nach einem ganzen Jahr noch zu Verbesserungen. Insbesondere zeige sich, dass die Belastbarkeit der Kinder und Jugendlichen steigt, und dass sie sich weiter an ihre Beeinträchtigungen anpassen und Kompensationsstrategien entwickeln.

Es gebe aber auch das Phänomen des «growing into deficit», erklärt Christina Schäfer. «Damit ist gemeint, dass ein verletztes Gehirn sich im Vergleich zu vorher und auch im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne Verletzung weniger schnell und gut entwickelt beziehungsweise dass sich die kognitiven Einschränkungen erst mit der Zeit manifestieren. Komplexe kognitive Funktionen wie Planen oder Prioritätensetzen entstehen eher spät. Das bedeutet, dass eine zunächst scheinbar kleine Beeinträchtigung im Verlauf der Entwicklung dazu führt, dass die Leistungen der betroffenen Kinder immer weiter hinter jene ihrer Altersgenossen zurückfallen. Das ist auch bei perinatalen Hirnverletzungen zu beobachten.»

Und doch: Zeit heilt Wunden

Nach einem Schädel-Hirn-Trauma oder einem Hirninfarkt braucht die Genesung Zeit. Nach einem so einschneidenden Ereignis ist der Wunsch nach Normalität oft gross. Das sei einerseits gut, meint Christina Schäfer, andererseits bestehe dadurch die Gefahr, zu schnell zu viel zu wollen. «Bei Erwachsenen folgen nach dem Spitalaufenthalt oft eine monatelange Rehabilitation und dann ein langsamer Wiedereinstieg ins Berufsleben mit einem Teilpensum. Kinder und Jugendliche erholen sich scheinbar schneller und kommen deshalb oft schon früh zurück in die Schule. In den ersten Wochen geht das gut, alle nehmen Rücksicht. Nach ein paar Wochen haben aber oft alle Involvierten – einschliesslich des betroffenen Kindes – das Gefühl, jetzt sollte es doch wieder ‹normal› gehen.» Doch genau zu dem Zeitpunkt hätten die betroffenen Kinder und Jugendlichen ihre Ressourcen aufgebraucht und seien erschöpft. Deshalb empfiehlt Christina Schäfer unbedingt einen langsamen Wiedereinstieg in den Schulalltag und eine gute Informierung der Lehrpersonen über die Chancen und Risiken. Es sei sinnvoller, schrittweise das Pensum wieder zu erhöhen als voll einzusteigen und erst, wenn es nicht geht, zurückzuschrauben.

Abklären, aber richtig

Wird ein Kind oder ein Jugendlicher in einer Spezialklinik behandelt, erfolgen dort automatisch eine neuropsychologische und allenfalls eine logopädische und eine ergotherapeutische Abklärung. Ist dies nicht der Fall, können Eltern oder Lehrpersonen das Kind oder den Jugendlichen beim Schulpsychologischen Dienst anmelden oder über den Kinderarzt eine differenzierte neuropsychologische Abklärung bei einer Fachperson veranlassen.

Manchmal gingen Informationen über eine frühere Hirnverletzung bei einem Schul- oder Lehrerwechsel verloren, erklärt die Neuropsychologin. Spätere Auffälligkeiten würden dann nicht damit in Zusammenhang gebracht. Oder alle seien der Meinung, das liege doch so lange zurück, das könne nichts mehr damit zu tun haben.

Mehr ist nicht immer besser

Auf die Frage zu den Therapien der Wahl empfiehlt Christina Schäfer je nach betroffenem Bereich Ergo- oder Psychomotoriktherapie, Logopädie, neuropsychologisches Training oder in Einzelfällen auch eine medikamentöse Therapie. Manchmal könne eine psychotherapeutische Begleitung oder systemische Ansätze, die die Familie miteinbeziehen, hilfreich sein. Grundsätzlich seien lösungsorientierte, pragmatische Ansätze gefragt. «Wenn viele verschiedene Behandlungsansätze notwendig sind, ist es wichtig, Schwerpunkte zu setzen und die Therapien in Phasen von drei bis sechs Monaten zu staffeln», erläutert sie. Es brauche unbedingt auch freie Zeiten. Christina Schäfer betont: «Die Devise lautet nicht ‹je mehr, desto besser›, sondern so viel wie nötig und so wenig wie möglich.» Deshalb rät sie auch eher von weiteren, alternativen Therapien ab.

Wie Eltern helfen können

Der erste und wichtigste Tipp für den Umgang mit einer Hirnverletzung ist für Christina Schäfer ganz klar: Zeit lassen. Zweitens nicht vergessen, dass die ganze Familie betroffen ist, denn alle Familienmitglieder reagieren individuell auf die Ängste und Belastungen. Und drittens die Reaktionen gut beobachten. Man müsse auf Signale wie Kopfschmerzen oder Müdigkeit hören lernen, ohne sie zu dramatisieren, betont Christina Schäfer. Sie gehörten zu einer Hirnverletzung dazu und seien Zeichen, dass der Körper oder das Gehirn eine Pause brauchen. «Eltern sollten ihr Kind nach einer Hirnverletzung nicht in Watte packen, aber ihnen Schutzraum anbieten, wenn es zu viel wird.» Sie sollten auch auf genügend Schlaf achten. Wichtig sei auch im Kopf zu haben, dass Dinge, die für gesunde Kinder Erholung bedeuten, für Kinder mit einer Hirnverletzung anstrengend sein können. Nicht nur die Schule sei eine Belastung, auch soziale Situationen fordern das Gehirn.

Lernmöglichkeiten unterstützen

Christina Schäfer und ihr Kollege Kevin Wingeier, ebenfalls Neuropsychologe, haben bei ihrer Arbeit in der Klinik die Erfahrung gemacht, dass es eher schwierig und umständlich ist, den Prozess der Reintegration in den Alltag engmaschig zu begleiten. Das wäre vor dem Hintergrund des langen Genesungsverlaufs aber nötig. «Wir konnten den involvierten Therapeuten und Lehrpersonen zu wenig neuropsychologisches Wissen weitergeben und sie nicht coachen», sagt sie. «Die Lernpraxis kann dank dem interdisziplinären Team flexibel und ambulant das anbieten, was im Prozess gerade wichtig ist. Je nach aktuellem Bedarf kann das Lerntraining, neuropsychologisches Training, Lernstrukturierung oder eher Information und Beratung für Eltern und Lehrpersonen sein.» Entwickeln sich im Zuge einer unfall- oder krankheitsbedingten Hirnverletzung psychopathologische Auffälligkeiten wie eine Depression oder eine Angststörung, könne am gleichen Ort von qualifizierten Fachpersonen eine psychotherapeutische Begleitung des Einzelnen oder der ganzen Familie angeboten werden. Im Zentrum der Angebote stehe immer das Kind oder der Jugendliche und die Frage: Was braucht er oder sie jetzt? Es wäre wünschenswert, wenn diese Frage im Umgang mit den Auswirkungen einer Hirnverletzung überall im Zentrum stünde.

Mit Christine Schäfer sprach Vanda Mathis

Praxis Zürichberg

Die Praxis Zürichberg bietet Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Unterstützung beim Verbessern ihrer individuellen Lern­fähigkeiten. Ein besonderer Schwer­punkt ist die Abklärung von Kindern und Jugend­lichen mit angeborenen oder erworbenen Hirn­schädigungen und deren individuelle Förderung.
www.praxis-zuerichberg.ch

Suche Startseite
Suche