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Schaltzentrale des Lebens

Das menschliche Gehirn ist das komplexeste aller Körperorgane und birgt für die medizinische Forschung die grössten Geheimnisse. Maja Steinlin, Abteilungsleiterin Neuropädiatrie am Berner Inselspital, vermittelt einen Einblick in die Entwicklung des Gehirns und dessen Besonderheiten.

Die Ausbildung des Gehirns und des Zentralnervensystems beginnt beim Embryo in der dritten Woche nach der Befruchtung. Am Ende der achten Woche ist die Grundstruktur fast vollständig angelegt, und das Rückenmark beginnt, erste Bewegungen der Finger und Zehen zu steuern.

Das Gehirn des Ungeborenen speichert bereits im Mutterleib Informationen. Beispielsweise legt es über die Wahrnehmung der Stimmen der Eltern das Fundament zum Erlernen der Muttersprache. Es reagiert auch auf akustische Signale: Wenn ein Wecker ertönt, erwacht der Fötus. Nach drei Monaten bilden sich in seinem Gehirn die ersten Furchen, und er baut –  obwohl die Augen noch nicht funktionsfähig sind – Netzwerke auf, dank denen das Baby nach der Geburt sehen kann, wenn auch nur schwarz-weiss und verschwommen. Klar sieht es lediglich über eine Entfernung von 20 bis 25 Zentimetern. Dies entspricht dem Abstand zu den Augen der Mutter beim Stillen. «Faszinierend, welche Regelung die Natur hier gefunden hat!», so Steinlin.

Bei der Geburt hat das kindliche Gehirn bereits so viele Nervenzellen wie das einer erwachsenen Person, ungefähr 100 bis 125 Milliarden, ist aber nur ein Viertel so schwer. Das liegt daran, dass die Nervenzellen noch nicht vernetzt sind, also noch keine Synapsen gebildet haben. Babys können noch keine logischen Gedankenabfolgen machen, sie reagieren mit Reflexen auf Umweltreize und körpereigene Signale. Wenn sie Hunger haben, frieren oder unangenehmen Geräuschen oder Empfindungen ausgesetzt sind, beginnen sie zu schreien.

Die Sinne entwickeln sich schnell. Tests haben ergeben, dass Babys schon nach wenigen Tagen Zitronen- von Vanilleduft unterscheiden können. Basale Geschmacksempfindungen auf der Zunge sind bei der Geburt bereits vorhanden. Der Geschmacksinn verfeinert sich mit der Aufnahme von fester Nahrung mit verschiedenen Geschmacksrichtungen zusehends. Neugeborene hören besonders gut, wenn sich jemand in hoher «Babysprache» an sie wendet. Am besten reagieren sie auf die Stimme der Mutter. Das Sehvermögen entwickelt sich in den ersten Lebensmonaten rasch. Babys merken überdies, wenn man sie berührt, wissen aber noch nicht, wo. Weil sie ihre Bewegungen noch nicht koordinieren können, strampeln sie einfach und rudern mit den Armen.

Babys können mehr, als wir meinen

Was immer ein Säugling spürt, hört, riecht, sieht und fühlt, baut neue neuronale Schaltkreise auf. Der «Hirncomputer» wird jeden Tag leistungsfähiger und sorgt dafür, dass Babys bald ihre Gliedmassen kontrollieren, Gegenstände ergreifen und krabbeln können. Experimente zeigen, dass sie auch die Fähigkeit besitzen, sich an Ereignisse der letzten 24 Stunden zu erinnern. Die Expertin gerät ins Schwärmen: «Zu dieser Entwicklungsstufe gibt es ausserordentlich interessante Untersuchungen.» Wenn man einem Baby beispielsweise ein bestimmtes Bild zeige, es dann füttere und ihm später ein anderes Bild zeige und es nicht füttere, reagiere es mit der Zeit auf das erste Bild mit deutlich freudiger Erwartung. Man könne annehmen, dass in dieser frühen Phase sogar schon ein gewisser Sinn für Zahlen oder Mengen vorhanden sei: «Babys verstehen in den ersten Lebensmonaten sehr viel mehr, als wir glauben.»

Im Alter von vier bis sechs Monaten reagieren sie auf ihren Namen und beginnen erstaunlicherweise bereits mit sieben Monaten, Grammatik zu lernen, obwohl sie noch gar nicht sprechen können. Das Hirn speichert vorsorglich die Strukturen der Muttersprache, um das Kind zu befähigen, mit den rund 500 Wörtern umzugehen, die es mit drei Jahren beherrschen wird.

Jedermann kennt auch die Situation im Tram oder im Bus, wenn einen ein Baby minutenlang völlig regungslos aus grossen Augen anschaut. «Das Neue, Ungewohnte fesselt es», erklärt Maja Steinlin. «In dieser Phase wachsen die visuellen, oralen und manuellen Fähigkeiten exponentiell. Babys müssen die Welt von Grund auf kennenlernen, nehmen alles in die Finger, um es zu be-greifen, entdecken ihre Zehen und die Tatsache, dass sie selber etwas machen können.»

Trampelpfade im Gehirn

Damit die nun folgenden grossen Entwicklungsschritte vom Hirn zu bewältigen sind, kommt es zu einer «Explosion» der Synapsen. Mit zwei Jahren haben Kleinkinder so viele Nervenverbindungen im Gehirn wie Erwachsene. Mit drei Jahren sind es gar doppelt so viele. Dieser Überschuss – eine Art evolutionärer Reserve – ist ein Zeichen für die grosse Anpassungs- und Lernfähigkeit des Kindes.

Das Gehirn ist im Alter von drei Jahren mehr als doppelt so aktiv wie im Erwachsenenalter und verbraucht entsprechend mehr Energie. Während ein erwachsenes Hirn rund 18 Prozent des täglichen Energiebedarfs absorbiert, sind es beim Dreijährigen gegen 50 Prozent. Das Hirn legt deutlich an Gewicht zu: Etwa 300 Gramm wiegt es bei der Geburt, 750 Gramm nach einem Jahr und bereits mehr als 1000 Gramm im dritten Lebensjahr. Bis dahin sind die Nervenfasern dick genug, um die Signale mit hoher Geschwindigkeit im Körper hin und her zu schicken. Das Kind kann seine Bewegungen immer besser koordinieren.

Von den Milliarden Synapsen bleiben aber nur die aktivsten erhalten, also jene, die das Kind intensiv «trainiert» – Steinlin spricht von «Trampelpfaden». Sie sagt: «Die Natur offeriert uns ein Riesenpotenzial, das wir aber nur zum Teil nutzen.» Was nicht gebraucht wird, verkümmert.

Verborgenes Gedächtnis

Das Gedächtnis entwickelt sich ab einem Alter von drei bis vier Jahren. Was aber nicht bedeutet, dass das kindliche Gehirn frühere Erlebnisse nicht speichern würde. Es kann sie einfach nicht abrufen, sie bleiben unbewusst. Man spricht deshalb auch von infantiler Amnesie. «Die ersten Lebensmonate sind von den Erfahrungen her enorm prägend», betont die Ärztin. Man wisse zwar nicht genau, was Kleinkinder erinnern können, gehe aber davon aus, dass sie es tun, vor allem Erlebnisse, die mit grossen Emotionen verbunden seien. In dieser Phase entwickle sich auch das Urvertrauen – oder eben nicht.

Das Kind kommuniziert nun immer aktiver, weil es die verschiedenen Inputs immer besser begreifen und gezielter darauf reagieren kann. Die allmähliche Integration der analytischen und der inuitiven Seite erlaubt es ihm zunehmend, zwischen Schein und Wirklichkeit zu unterscheiden. Wenn man ihm  beispielsweise beim sogenannten «Rouge-Test» unbemerkt einen roten Punkt auf die Stirn malt und es dann in einen Spiegel schauen lässt, merkt es mit ungefähr zwei Jahren erstmals, dass da etwas ist, was nicht zu ihm gehört.

Kinder lernen spielerisch

Nun beginne eine besonders intensive Phase der Hirnentwicklung, sagt Maja Steinlin. Kinder lernen durch Spiel und Nachahmung dessen, was die Erwachsenen tun. Sie schlüpfen in Rollen und spielen «Mami und Papi», «Besuch beim Doktor» oder «in die Schule gehen». Das funktionelle Spiel – die Puppe füttern – wird abgelöst durch das repräsentative – der Puppe beibringen, wie sie selber essen soll. Kinder spielen am liebsten, was sie gerade lernen müssen. Den Gummitwist üben Mädchen auf dem Pausenplatz stundenlang, aber er bleibt nur so lange interessant, bis sie ihn von den Bewegungen her beherrschen.

Folglich entwickeln sich die Bereiche des kindlichen Gehirns, die beispielsweise für Musik oder für die Sprache zuständig sind, deutlich besser, wenn das Kind früh mit Musik konfrontiert wird oder zweisprachig aufwächst: «Je früher spezialisierte Synapsen gebraucht werden, desto besser ist ihre Funktionstüchtigkeit.»

Das Frontalhirn reift

Ab dem sechsten Altersjahr erleichtert die zunehmende Reife des Stirnlappens dem Kind das logische Denken. Seine Urteilsfähigkeit wächst, es verbessert seine sprachlichen Fähigkeiten und das räumliche Vorstellungsvermögen. Die Optimierung des Gehirns folgt nach wie vor dem Prinzip des «use it or loose it»: Nicht benutzte Synapsen gehen verloren. Umso leistungsfähiger werden die oft begangenen «Trampelpfade». Gegen ein gesundes, siebenjähriges Kind habe ein Erwachsener beim Memory praktisch keine Chance, sagt Maja Steinlin: «Dann erreichen die Kinder bezüglich dieser Merkfähigkeit eine hohe Leistungsfähigkeit.»

Aus Sicht der Hirnentwicklung ist die Pubertät eine besonders spannende Phase. In den Stirnlappen, die immer noch nicht ganz ausgereift sind, sitzen die Zentren für Ablenkbarkeit, Antriebsstörung, Hyperaktivität, Aggressivität und überbordende Emotionen. «Pubertierende agieren oft reflexartig, überschäumend und heftig; sie sind labil und leicht zu beeinflussen», sagt die Fachfrau, «deshalb ist auch das Risiko, beispielsweise von Drogen abhängig zu werden oder in schlechte Gesellschaft zu geraten, in dieser Lebensphase besonders gross.» Wenn das Frontalhirn ausgewachsen ist, ist die Pubertät vorbei, das Hirn erreicht sein Entwicklungsziel.

Vernetzte Struktur

Manche Experten behaupten, dass der Mensch mit seiner linken Hirnhälfte Unterschiede suche, klare Grenzen ziehe, Zahlen liebe, Formeln und Listen kreiere, gerne kritisiere, argumentiere und strukturiere. Mit der rechten suche er Gemeinsamkeiten, zeige eine tolerante Haltung, nehme Grenzen undeutlich wahr, sei impulsiv, spontan und intuitiv. Je nachdem, ob man eher links- oder rechtsseitig gepolt sei, prägten einen die jeweiligen Eigenschaften.

Mit solchen Aussagen bekundet Maja Steinlin Mühe. Erwiesen sei, dass in der linken Hirnhälfte eher die sprachassoziierten Fähigkeiten zu finden seien. Hier gehe es ums Reden, Schreiben, um Denkprozesse, Konzentration, Objekt- und Farbenerkennung. Auf der rechten Seite finden sich mathematische und musikalische Fähigkeiten und solche der dreidimensionalen Einschätzung: visuell-räumliches Verständnis, Vorstellungsvermögen und Gesichtserkennung.

Die frühere Auffassung, dass bestimmte Fähigkeiten in streng voneinander abgegrenzten Hirnregionen «zu Hause» seien, greife eindeutig zu kurz.  «Das Hirn besteht aus Netzwerken, aus unzähligen Punkten, die miteinander verknüpft sind. Es kann durchaus sein, dass eine Schädigung irgendwo in diesem Netzwerk eine Funktion an einer ganz anderen Stelle beeinträchtigt.» So gebe es etwa Hirnzentren zur Planung einer Bewegung und solche zur Ausführung derselben. Eine Schädigung der Verbindung führe zu einer Bewegungsstörung, auch wenn die beiden Zentren unversehrt bleiben.

Daneben gebe es aber auch Bereiche, die so wichtig oder so spezialisiert seien, dass man bei einer Verletzung bestimmte Fähigkeiten für immer verlieren könne, wie wenn jemand von einem Tag auf den anderen nicht mehr in der Lage sei, ihm nahestehende Personen an ihrem Gesicht zu erkennen.

Primitive und moderne Forschung

Wie hat man überhaupt herausgefunden, welche Fähigkeiten und Funktionen in welchen Hirnregionen angesiedelt sind? «Zuerst auf ziemlich primitive Weise», sagt die Expertin. So hätten Forscher ehemalige Soldaten untersucht, die im Ersten Weltkrieg Schussverletzungen am Kopf überlebt hatten, um festzuhalten, welche Schädigungen die Folge waren. Nach dem Tod obduzierten sie die Betroffenen und wiesen der verletzten Hirnregion die abhanden gekommenen Fähigkeiten zu. Dasselbe Prinzip habe man auch nach Schlaganfällen oder schweren Unfällen angewandt.

Mit der heutigen Technologie könne man die Hirnaktivitäten am lebenden Menschen sichtbar machen und sogar Netzwerke bildlich darstellen. Bei der Magnetresonanztomographie leuchten die Hirnregionen auf, die aktiv werden, wenn der Proband redet, einen Körperteil bewegt, träumt oder einen Geruch registriert. Auf diese Weise habe eine Studie mit Londoner Taxifahrern ergeben, dass sie dort, wo die Orientierungsleistung erbracht wird, deutlich mehr aktive Hirnzellen hatten als Vergleichspersonen. «Das war natürlich noch vor der GPS-Ära», schmunzelt Maja Steinlin. Unter dem täglichen Training sei diese Hirnregion so sehr gefordert worden, dass sie an Volumen und Leistung zugelegt habe, ähnlich einem gut trainierten Muskel. 

Trend zur Einseitigkeit

Ursprünglich seien beim Menschen die meisten Hirnfunktionen beidseitig angelegt, erläutert die Fachärztin. Erst mit der Zeit verlagern sie sich auf eine Seite, im Fachjargon spricht man von Lateralisierung. MRI-Untersuchungen zeigen denn auch, dass Kinder ihr Hirn für die Sprache zuerst beidseitig nutzen. Der Prozess der Verlagerung erstreckt sich bis ins Teenageralter. Parallel dazu kommt es zu einer leistungsfördernden Verdichtung: Bei guter Sprachbeherrschung nehmen die aktiven Zentren weniger Raum ein.

Bei einer Schädigung des Sprachgebiets kann ein Kind deshalb noch auf die alten, beidseitigen Funktionen zurückgreifen, um Ausfälle zu kompensieren. Kinder seien bis zum siebten Altersjahr sogar in der Lage, die Sprachfunktion vollständig in die rechte Hirnhälfte zu verlagern. Erwachsene hingegen bekunden enorme Mühe, wieder reden zu lernen, denn ihr «Ersatznetzwerk» ist längst verkümmert.

Dasselbe Prinzip gilt bei der Motorik. Bei der Geburt ist die linke Hirnhälfte noch mit der linken Hand «kurzgeschlossen» und die rechte mit der rechten. Zur Überkreuzung kommt es erst nach zwei bis drei Monaten: Von da an steuert die linke Hirnhälfte die rechte Hand und umgekehrt; die direkten Verbindungswege beginnen zu verkümmern. Bei einer Hirnschädigung vor der Geburt oder in den ersten Lebensmonaten ist es betroffenen Kindern möglich, die ursprünglichen, direkten Signalwege zu erhalten oder zu reaktivieren. Sie neigen jedoch zu sogenannten «mirror movements». Wenn sie versuchen, mit der rechten Hand nach einem Glas zu greifen, will die linke Hand dies ebenfalls tun. Das Hirn hat offensichtlich mit einem Codierungsproblem zu kämpfen.

Gleichwohl haben Kinder, die in den ersten fünf Jahren einen Schlaganfall oder ein Schädel-Hirn-Trauma erleiden, eine insgesamt schlechtere Erholungsprognose als Kinder im Schulalter. Zwar können sie auf das noch nicht verkümmerte parallele Netzwerk zurückgreifen, schaffen es aber nicht mehr, ein einseitiges, fokussiertes und deshalb besonders leistungsfähiges Sprachsystem zu entwickeln. Ältere Kinder, bei denen sich ein solches Zentrum vor der Schädigung bereits etablieren konnte, sind bei der Rehabilitation deshalb im Vorteil.

Warum wir werden, wie wir sind

Für die Entwicklung des Hirns und die Prägung seiner Grundstruktur während der Schwangerschaft seien in erster Linie Tausende von Genen väter- und mütterlicherseits verantwortlich, sagt Maja Steinlin. Dazu kämen Faktoren wie die Ernährung via Mutterkuchen – aber auch schädliche Einflüsse wie Infektionskrankheiten, Alkohol- oder Nikotingenuss, die sich auf das Hirn des Fötus auswirken können. Wichtig sei aber auch, was das menschliche Gehirn anschliessend im Guten wie im Schlechten erfahre. Die Aktivitäten und Aufgaben, die es im Verlauf der Zeit bewältigen muss, prägen es in hohem Masse. Deshalb sind eine gute Stimulation und Förderung von Kindern so wichtig. Es sei faszinierend, diese Entwicklung zu verfolgen, die erst mit dem 20. Lebensjahr weitgehend abgeschlossen ist.

«Man kann das Hirn beeinflussen, bis man 20 Jahre alt ist; nachher arbeitet man mit dem, was man hat», beschliesst Maja Steinlin ihre Ausführungen zur Entwicklung der Schaltzentrale unseres Lebens. Das lasse sich mit Messungen belegen: «Wenn man mit einem gesunden Kind jedes Jahr einen bestimmten Test macht, schneidet es immer besser ab. Nach 20 flacht diese Kurve dann deutlich ab. Was aber nicht heisst, dass man nicht lebenslang dazulernen kann!»

Mit Maja Steinlin sprach René Staubli

Was alles in unserem Kopf ist

Das menschliche Zentralnervensystem (ZNS) besteht aus dem Gehirn und dem Rückenmark und ist Teil des gesamten Nervensystems. Das Gehirn ist in Regionen aufgeteilt, die im Zusammenspiel mit anderen Regionen ihre Funktion übernehmen.

Zum Aufbau des Gehirns

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